Historische Exempel in Fürstenspiegeln und Fürstenlehren

Historische Exempel in Fürstenspiegeln und Fürstenlehren

Organisatoren
Prof. Dr. Christine Reinle im Rahmen des SFB 434 „Erinnerungskulturen“ der Justus-Liebig-Universität Gießen
Ort
Gießen
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.06.2008 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Sina Kalipke, SFB 434 "Erinnerungskulturen", Hist. Institut, Landesgeschichte, Justus-Liebig-Universität Gießen

Am 14. Juni 2008 fand an der Justus-Liebig-Universität in Gießen der Workshop „Historische Exempel in Fürstenspiegeln und Fürstenlehren“ unter der Leitung von Christine Reinle (Gießen) statt, der im Rahmen des dortigen SFB 434 „Erinnerungskulturen“ und vom Lehrstuhl für Deutsche Landesgeschichte veranstaltet wurde. Das zentrale Forschungsinteresse des Workshops bestand in der Untersuchung des Gebrauchs und der Funktion von Geschichte sowie ihres Arsenals an Exempeln in der Fürstenspiegelliteratur. Der Umgang mit geschichtlicher Erinnerung, die als Fundus für politikrelevante Handlungsmuster und damit einhergehend auch für nachzuahmende oder abzulehnende Leitbilder genutzt werden konnte, sollte anhand ausgewählter Fürstenspiegel und Tugendlehren unterschiedlicher Provenienz untersucht werden.

Nach einem Grußwort von CHRISTINE REINLE (Gießen) führte SINA KALIPKE (Gießen) in das Thema der Tagung ein und verortete zunächst den Exemplumgebrauch historisch, um die Problematik einer eindeutigen Definition des Exemplums in der Forschung zu umreißen. Statt der Frage nach dem Exemplum als literarischer Gattung stelle sich nach Peter von Moos vielmehr die Frage nach der Funktionalität und Intentionalisierung des Exemplums in seinem jeweiligen Kontext. Beim Exemplum handele es sich nämlich, wie Markus Schürer für die Exempla-Forschung prägnant zusammenfasst, um eine „jeweils kontextuell bedingte Variante des einen Prinzips historisch-persuasiven Argumentierens“, die von der Antike bis zur Neuzeit zu finden war. Das zentrale Anliegen des Workshops bestand darin, die noch nicht ausreichend erforschte enge Verbindung, die die Exempla als argumentative Methode einerseits und die Historie andererseits in Fürstenspiegeln und -lehren des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit miteinander eingehen konnten, ausführlicher zu betrachten. Besonderes Augenmerk sollte dabei auf die Verwendung von Exempla aus dem Bereich der Profanhistorie gelegt werden. Im Zuge eines veränderten Predigtwesens kam es im 12. Jahrhundert zu einem sprunghaft ansteigenden Gebrauch des profanhistorischen Exempels, das als spezifische Denkform nachfolgend auch andere Literaturgattungen beeinflusste.

Der Vortrag von VALENTINA COVACI (Budapest), Historical Exemplarity in Giles of Rome’s „De ecclesia potestate“ and „De renunciatione pape“, konzentrierte sich auf den Gebrauch von historischen Exempla als Argument in den Auseinandersetzungen zwischen dem französischen König Philipp dem Schönen und Papst Bonifaz VIII. zu Beginn des 14. Jahrhunderts. Zur Legitimierung der päpstlichen Oberhoheit auch in weltlichen Dingen griff Aegidius Romanus in De ecclesiastica potestate auf biblische und weltliche Herrscher als Vorbilder für die Anerkennung dieser Oberhoheit zurück. Um die Argumente von Seiten der Juristen und Theologen des Königs zu widerlegen, nutzte er vor dem Hintergrund einer dreistufigen Heilsgeschichte (in lege naturae, in lege scripta, in lege gratiae) Figura und Exemplum, um zum einen die Päpste in die Tradition von alttestamentarischen Herrschern zu stellen, die – wie Moses – politische und religiöse Macht vereinten, und zum anderen die historische Kontinuität der ministerium-Funktion der Könige gegenüber dem Papst anhand biblischer (Saul) und christlicher Herrscher (Kaiser Konstantin) zu illustrieren. Covaci legte dar, dass das Exemplum in Anlehnung an die antike Tradition der Rhetorik bei Aegidius Romanus insbesondere eine rhetorische Funktion erfüllte, indem es ein verpflichtendes Leitbild der Vergangenheit für die Gegenwart bot. Damit einhergehend erhielt die Historizität des Exemplums eine hohe persuasive Bedeutung.

PETRA SCHULTE (Köln) beleuchtete in ihrem Vortrag über Politische Erinnerung in burgundischen Tugendlehren des 15. Jahrhunderts die Funktion von Exempla, insbesondere anhand des zweiten Buch vom Goldenen Vlies des Guillaume de Fillastre d. J. Mit diesem der Tugend der Gerechtigkeit gewidmeten Adelsspiegel wollte Fillastre anhand von Exempla den burgundischen Adel zur Wahrhaftigkeit, die dem Einzelnen Glück und Stabilität bringe, und zur Exemplarität in ihrem Verhalten anleiten. Wie auch Jean Germain oder Christine de Pizan in ihren Tugendlehren aktualisierte er einerseits klassische biblische und antike Exempla zur Internalisierung und Habitualisierung in politischer Funktion, andererseits griff er aber auch auffallend häufig auf vertraute Exempla aus dem eigenen Erleben und der jüngeren Vergangenheit zurück. Aufgrund dieser Beobachtung stellte Schulte die These auf, dass die klassischen Exempla der Bibel und der Antike sich von den politischen Exempla der Gegenwartsgeschichte deutlich in ihrer Funktion unterschieden. Klassische Exempla dokumentierten ewige Wahrheiten und wurden in Abgrenzung zur eigenen Wirklichkeit verwendet. Die zeitnahen Exempla, die dem eigenen Erfahrungsschatz entnommen waren, dienten hingegen der emotionalen Identifikation und der Reflexion des eigenen Verhaltens. Der Gegenwartsgeschichte wurde somit einen geringeren Beweiswert zugesprochen und daher nur als eingeschränkt exempelfähig angesehen.

NATHANAEL RIEMER (Potsdam) betrachtete Historische Exempel in der älteren jiddischen Literatur des 18. Jahrhunderts, die bisher wenig erforscht ist. Die jiddische Moralliteratur galt aufgrund ihres bildungsfernen, häufig weiblichen Rezipientenkreises bislang als weniger anspruchsvoll. Da das nicht hebraisierte Publikum aber die Mehrheit der jüdischen Gesamtbevölkerung darstellte, forderte er eine Neubewertung der von kabbalistischen Lehren beeinflussten jüdischen Literatur in der Forschung. Anhand verschiedener Moralwerke konnte Riemer zeigen, dass die Exempla über ein konkretes Promythion eingeleitet und von einem Epimythion abgeschlossen wurden, die jeweils von einer Skizze des Kontextes eingerahmt waren. Exempla wurden als Belege oder Beweis für eine moralische Aussage genommen und dienten der Verarbeitung kollektiver Katastrophen oder emotionaler Krisen. Auffällig war ihre Enthistorisierung aufgrund fehlender konkreter historischer Bezüge zu einem Ort, einer Person oder einem Ereignis. Dies führte Riemer auf die konservativ-moralisierenden Ausrichtung der Werke zurück, deren narratives Material durch Enthistorisierung der Exempla an das ungebildete Publikum angepasst wurde, damit konkrete Angaben nicht dem Verständnis hinderlich wurden.

KARL UBL (Tübingen) sprach über Exempla bei Engelbert von Admont und seinen Zeitgenossen und erörterte den generellen Stellenwert von historischen Exempla in Fürstenspiegeln aus dem scholastisch universitären Umfeld zu Beginn des 14. Jahrhunderts für habsburgische Herzöge. Die Tendenz zur Verwissenschaftlichung und Rationalisierung infolge der Aristotelesrezeption führte nach seiner Ansicht zu einer Marginalisierung der Exempla, denen kein erkenntnisfördernder, sondern nur noch ein didaktischer Wert zugesprochen wurde. So verwendete Engelbert von Admont in De regimine principum nur wenige historische Exempel aus der Antike und der Bibel zur Vermittlung ethischen Wissens, während er in dem der Prinzenerziehung dienenden Speculum virtutum häufiger von ihnen Gebrauch machte. Johann von Viktring griff oftmals auf Exempla der Antike in seinem Speculum militare zurück; Konrad von Megenberg bediente sich ihrer in seiner Monastica und Yconomica dagegen gar nicht. Die erkenntnisleitende Funktion des Exemplums als historisches Argument, die in politischen Traktaten wie zum Beispiel in dem Policraticus des Johann von Salisbury zu beobachten war, sah Ubl in den vorgestellten Fürstenspiegeln durch eine lediglich noch moralische Funktion phasenweise verdrängt. Zudem wurde in den Schriften durch den alleinigen und geringen Rückgriff auf biblische und antike Exempla die Auffassung deutlich, die eigene Zeit als nicht exempelwürdig zu betrachten.

Als grundsätzliche Beobachtungen und Ergebnisse des Workshops können folgende Aspekte festgehalten werden: Erstens beanspruchten historische biblische oder antike Exempel eine höhere Überzeitlichkeit und Gültigkeit und wurden daher als besonders erinnerungswürdig angesehen. Exempel aus der Gegenwartsgeschichte hingegen wurden zwar im Spätmittelalter mitunter auch zahlreich in burgundische Tugendlehren, wie Petra Schulte zeigen konnte, eingesetzt, sie wurden aber nicht zum Argument für „ewige Wahrheiten“ und waren daher nicht traditionsstiftend. Zweitens differierte je nach Untersuchungsfeld die Struktur der Exempla: Der Dominanz des Narrativen in den stark didaktisch ausgelegten jiddischen Exempla stand eine stärkere Orientierung an Ordnungs- und Leitbegriffen im Fall Fillastres gegenüber. Drittens ist die Verwendung von historischen Exempeln wie der Umgang mit geschichtlicher Erinnerung generell, wie nicht anders zu erwarten, durch Selektion, Umformung und Verfremdung aufgrund der jeweiligen kontextgebundenen Intentionalität gekennzeichnet. Viertens wurde noch einmal ausdrücklich die Kontextabhängigkeit der Funktion eines Exemplums unterstrichen: Er reichte von der historischen Beweisführung bei Aegidius Romanus über die moralisch-didaktische Funktion der Belehrung von heranwachsenden Prinzen und jüdischen Frauen bis zum tagespolitisch-pragmatischen Anliegen, herrscherliche Forderungen an die Untertanen wie im Fall Burgunds zu legitimieren.

Kurzübersicht:

Christine Reinle (Gießen): Grußwort

Sina Kalipke (Gießen): Einführung

Valentina Covaci (Budapest): Historical exemplarity in Giles of Rome's De ecclesiastica potestate and De renunciatione pape

Petra Schulte (Köln): Politische Erinnerung in burgundischen Tugendlehren des 15. Jahrhunderts

Nathanael Riemer (Potsdam): Historische Exempla in der älteren jiddischen Literatur

Karl Ubl (Tübingen): Exempla bei Engelbert von Admont und seinen Zeitgenossen


Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts